Eigentlich hört es sich ziemlich brav an. Das Schweizer Fernsehen produziert zusammen mit dem Staatsfernsehen der DDR einen Historienfilm über den Reformator Ulrich Zwingli. Die Hauptrolle spielt eine junge Schweizerin. Beide Seiten erhoffen sich Vorteile von der Kooperation.
Was das Schweizer Fernsehpublikum am Reformationssonntag 1978 dann aber zur Hauptsendezeit am Abend um zwanzig nach acht zu sehen bekommt, ist von anderem Kaliber: Oralverkehr, Gruppensex, nackte Brüste und Penisse. Wiedertäufer an Deltaseglern, Maschinengewehre auf dem Schlachtfeld sowie Masturbation mit einer Heiligenstatue – und obendrauf eine Frau, die auf das Bein eines verwundeten Soldaten uriniert.
Das alles in einer historischen Gottfried-Keller-Verfilmung. Über den Reformator Ulrich Zwingli. Im Schweizer Fernsehen. Und ohne Vorwarnung.
Die Ausstrahlung bringt das Publikum auf. Zahllose Schreiben, die die Produktion als „niederträchtig“, „primitiv“, „Sauerei“ und „filmisches Debakel“ bezeichnen, erreichen die SRG. Zwei Zuschauer erstatten Anzeige wegen „unzüchtigen Veröffentlichungen“. Intellektuelle und Vertreter der reformierten Kirche streiten öffentlich über die Berechtigung eines solchen Werks. Bei einer Veranstaltung bekommt der verantwortliche Fernsehredakteur von einem Kirchenmann eine Ohrfeige verpasst. In der DDR wird der Film von den Zuschauern als „primitiv“ und „pornographisch“ kritisiert, und nach anfänglicher Begeisterung der Kulturoberen gerät er auch bei ihnen „aus dramaturgischen Gründen“ in Misskredit. Danach verschwindet der Film in beiden Ländern in der Versenkung.
Mitten im kalten Krieg sorgte eine Zwingli-Verfilmung für ziemlichen Aufruhr. Wie konnte es dazu überhaupt kommen?
Wie alles begann
Um das Zustandekommen und die Folgen der Keller-Verfilmung mit dem unverfänglichen Titel
„Ursula“ zu verstehen, muss man sich in die Zeit zurückversetzen, in der er entstand. Mitte der 1970er
Jahre erfährt das Schweizer Fernsehen viel Gegenwind in der Öffentlichkeit. Ihm wird
„Linkslastigkeit“ vorgeworfen. Zudem gilt das noch immer relativ neue Medium vielen Schweizern
als Mittel der Volksverdummung. Das Budget, das der Bund zur Verfügung stellt, ist entsprechend
schmal. Die Journalisten und Redaktorinnen kämpfen um kulturelles Ansehen und auch um Freiheit
von politischen Gängelungsversuchen. Gleichzeitig beziehen Reportagen und Berichte Position.
Profilscharfe Sendungen wie „Kassensturz“ bringen Aufmerksamkeit. Allerdings verschärft sich
dadurch der Vorwurf, tendenziös zu sein. Immer häufiger kommen Beschwerdebriefe der Zuschauer.
Doch eine unabhängige Beschwerdeinstanz gibt es erst seit 1984. Bis dahin sitzen die Fernsehleute –
viele politisch progressiv eingestellt – in einer Art Elfenbeinturm. Ausgestattet mit relativ viel Freiheit.
Und vielleicht auch mit der klammheimlichen Lust, der braven Bevölkerung punkto Modernität ein
bisschen auf die Sprünge zu helfen.
Der Schweizer Fernsehdirektor Guido Frei hat den Anspruch, qualitativ hochstehendes
Programm zu machen. Frei ist Historiker und Mitglied der FDP, kein Linker. Um das Budget zu
schonen, setzt er auf Koproduktionen mit Westdeutschland, Österreich und auch dem Ostblock.
Verantwortlich für die Akquise von Filmen ist der Ressortleiter der Abteilung Dramatik, Max Peter
Ammann. Der Theatermann aus dem Sankt-Gallischen hat zuvor als Regisseur in Westberlin
gearbeitet und auch die subversiven ostdeutsche Intellektuellenszene kennengelernt. Schon mehrfach
hat er Spielfilme aus der DDR ins Programm gesetzt. Einige Medien verdächtigen ihn dafür als
Sympathisanten des Kommunismus. Doch den Zuschauern gefallen die anspruchsvollen Produktionen.
In der DDR herrscht in diesen Jahren drückende Frustration. Nach aussen hat mit der
Entspannungspolitik der siebziger Jahre eine Annäherung der Blöcke begonnen. Im Innern herrscht
Misstrauen und Repression gegen Künstler, denen Erich Honecker persönlich „Nihilismus“ und
„Skeptizismus“ vorwirft. 25 Jahre nach Staatsgründung ist jede Euphorie nicht nur in der
Bevölkerung, sondern auch unter vielen Intellektuellen verflogen. Diejenigen, die relative
künstlerische Freiheit und vor allem Reisemöglichkeiten in den Westen haben, werden vom
Parteiapparat im Auge behalten. Jeder weiss, dass Privilegien schnell enden und Gefängnis drohen
kann. 1976 wird der Liedermacher Wolf Biermann, einer der bekanntesten und regimekritischsten
Intellektuellen des Landes, nach jahrelangem Auftrittsverbot unerwartet ausgebürgert. Über hundert
namhafte Künstler unterschreiben daraufhin eine Resolution und werden danach von der Stasi
überwacht und drangsaliert. Viele verlassen, freiwillig oder zwangsweise, das Land. Andere gehen in
die innere Emigration. Diejenigen, die zwar kritisch sind, ihre Solidarität mit dem jungen Staat aber
nicht ganz aufgeben wollen, sind künstlerisch ausgelaugt. Einer von ihnen ist der Regisseur Egon
Günther. Durch mehrere Literaturverfilmungen und eine zunehmend experimentelle Filmsprache hat
er Renommee erworben. Mit seinem Film „Lotte in Weimar“ war die DDR 1974 erstmals bei den
Filmfestspielen in Cannes vertreten. Günther glaubt an die Utopie des Sozialismus und ist gleichzeitig
frustriert von ihrer restriktiven Umsetzung und der ständigen Auseinandersetzung mit den Obrigkeiten.
Eine Art staatlich gefördertes Enfant terrible. 1978, im Alter von 51 Jahren, wird auch ihm die DDR zu
eng und er sucht nach einer Möglichkeit zum Absprung in den Westen.
Max Peter Amman pflegt die beruflichen Kontakte zu den DDR-Kollegen und trifft sich
immer wieder mit ihnen im In- und Ausland. Irgendwann Mitte der siebziger Jahre entsteht die Idee
eines gemeinsamen Fernsehfilms. Bei einem Besuch in Ostberlin trifft Ammann 1976 auf Egon
Günther und dessen Lebensgefährtin Helga Schütz. Sie ist es, so geht die Sage, die den
Verantwortlichen auf DDR-Seite die Novelle „Ursula“ von Gottfried Keller für die Zusammenarbeit
mit den Schweizern vorgeschlagen hat. Kellers genauer Blick auf die Kleingeistigkeit der bürgerlichen
Gesellschaft macht ihn auch in der DDR populär, er ist Schullektüre.
„Ursula“ spielt in der Reformationszeit und handelt vom jungen Söldner Hansli Gyr, der nach
Jahren im päpstlichen Kriegsdienst zu seiner „Verlobten aus Kindertagen“, Ursula, nach Hause
kommt. Ihre Familie hat sich den Wiedertäufern angeschlossen, und nicht nur Ursula zeigt Zeichen
von sittlichem Verfall. Hansli flüchtet nach Zürich, um sich bei Zwingli selbst ein Bild von den neuen
Zeiten zu machen. Er schliesst sich dem Reformator an und versucht seine Verlobte aus den Fängen
der geistig und sexuell hitzköpfigen Täufer zu befreien. Doch Ursula ist inzwischen dem Wahnsinn
anheimgefallen und sieht in Hansli den Erzengel Gabriel. In Zwinglis Todesschlacht treffen die beiden
noch einmal aufeinander und finden doch noch ihr Glück.
Helga Schütz ist im Osten eine renommierte Schriftstellerin. Mit historisch exakten
Drehbüchern, für die sie minutiös in Archiven recherchiert, hat sie dem Staat schon viele
Kulturmeriten eingefahren. Überzeugte Genossin ist sie nicht. Aber sie trägt hier ihre
Verantwortlichkeiten. Mit Günther hat sie einen Sohn und eine Tochter, die vor kurzem zwölfjährig
schwerbehindert verstorben ist.
„Sali Günther, ich bin die Suzanne“
Man einigt sich rasch auf die Modalitäten. Günther als Regisseur und Schütz als Drehbuchautorin sind
von Anfang an gesetzt. Das Schauspielerensemble soll aus beiden Ländern kommen. Der Starregisseur
arbeitet natürlich mit seiner eigenen Crew und bringt auch ein paar seiner vertrauten Darsteller mit.
Das Veto für die Besetzungsvorschläge der Schweizer behält er sich vor. Die Schweizer dürfen
hingegen Aufnahmetechnik, Filmmaterial und das Geld für Entwicklung und Kopien beisteuern. Und
die Landschaft: Für die Aussenaufnahmen plant der Regisseur gerne eine Reise in die Schweiz. Für die
Innenaufnahmen verfügt die DDR über leistungsfähige Ateliers des staatlichen Filmunternehmens
DEFA. Drei Parteien sehen so in „Ursula“ eine Art Hauptgewinn: Das Schweizer Fernsehen realisiert
für relativ wenig Geld eine Grossproduktion mit ausländischem Glamour. Die offizielle DDR gewinnt
durch die Zusammenarbeit mit dem neutralen westlichen Staat politisches Ansehen. Und der müde
gewordene DDR-Filmemacher erhält Gelegenheit zu einem letzten Paukenschlag. Sowie ein paar
Wochen Gratisaufenthalt in der Schweiz mit seiner Crew.
Anfang 1978 sendet das Schweizer Fernsehen einen Aufruf. Man suche ein junges Mädchen
für die Titelrolle in einem Fernsehfilm. Eine „Fachausbildung“ sei nicht Bedingung. 782
Bewerberinnen melden sich. Fünfzig werden zum Vorsprechen in Zürich eingeladen. Sieben danach zu
Probeaufnahmen aufgeboten. Die Baslerin Suzanne Stoll ist eine davon. Sie hat gerade ihre
Schauspielausbildung beendet und ist am Schauspielhaus Zürich engagiert. Durch eine Kollegin hört
sie zufällig von dem Aufruf und meldet sich in letzter Minute an.
Die 22jährige befindet sich damals, wie sie später sagt, in einer psychischen Abwärtsphase.
Zum Casting dreht sie so richtig auf, erscheint mit einer Geige, obwohl sie das Instrument gar nicht
spielen kann, und behauptet, sie müsse sofort drankommen, weil sie in einer Stunde Probe habe, auch
wenn das nicht stimmt. Als der Regisseur ihr die Hand hinstreckt und „Günther“ sagt, ist sie
überzeugt, dass das der lässige Umgangston der DDR sein muss, wo man sich anscheinend gleich
duzt.
Die 64jährige lebt heute als Sprachtherapeutin in Basel. Noch immer erkennt man im
Gespräch mit ihr die Emotionalität der Schauspielerin. Sie duzt den Regisseur mit den Worten „Sali
Günther, ich bin die Suzanne“ zurück. Für sie ist in diesem Moment klar, dass Egon Günther der Mann
ihres Lebens ist. Sie bekommt die Rolle. Und sie bekommt den Mann. Aber es wird für sie eine
Leidensgeschichte, wie sie heute sagt. Günther ist ja mit Helga Schütz zusammen. Vor aller Augen
beginnt er eine Beziehung mit Suzanne Stoll.
Im Februar 1978 ist Drehbeginn in Ostberlin.Im April wechselt man für die Aussenaufnahmen
in die Schweiz. Für das Team aus der DDR herrscht Kulturschock. Viele sind zum ersten Mall im
westlichen Ausland. Die 60 Franken Spesen, die sie pro Tag bekommen, sind sofort weg. Auch Egon
Günter betrachtet Schweizerfranken wohl als Spielgeld. Bereits nach kurzer Zeit ist das Budget um
rund 70 000 Franken überzogen. Am Ende schlägt die Produktion für die SRG mit 1,3 Millionen
Franken zu Buche. 155 000 Franken mehr, als ursprünglich vorgesehen. Rund ein Drittel der
Überschreitung kommt durch das 35-mm-Filmmaterial und Entwicklungs- und Kopierkosten
zusammen, womit Günther grosszügig umgeht. Die Produktionsverantwortlichen des Schweizer
Fernsehens bitten ihn um Mässigung. Doch dafür ist es jetzt zu spät. Auf dem Set zieht der Regisseur
alle Register.
Das Drehbuch, historisch sauber und dramaturgisch stabil von beiden Koproduktionspartner
ohne grosse Einwände abgenickt, ist nur ein vages Gerüst. Egon Günther, der 2017 in Potsdam
gestorben ist, setzt auf Improvisation und Intensität. Das frisch entstandene Liebesverhältnis mit seiner
blutjungen Hauptdarstellerin bringt ihn auf immer neue Ideen. Suzanne Stoll ist verliebt, und es gibt
nichts, wozu sie sich von ihm nicht bereitwillig hinreissen lässt. Doch bald liegen die nerven blank.
Günther ist eine Diva. Wenn ihm etwas nicht passt, bestraft er seine neue Geliebte mit Schweigen oder
kritisiert sie vor der ganzen Crew. In manchen Szenen hat sie verquollene Augen, weil er sie
unmittelbar davor angeschrien oder blossgestellt hat.
Täufer als Sprachrohr
Im Film wie in der Novelle ist Zwingli eine Nebenfigur, die allerdings das Thema der ganzen
Geschichte vorgibt. Für die Rolle wurde auf Vorschlag der Schweizer der in Zürich lebende deutsche
Schauspieler Matthias Habich engagiert. Er spielt den Reformator mit intellektueller Autorität – und
mit unbestreitbarem, frostigem Charisma. Minutenlang bleibt die Kamera bei seinem ersten Auftritt in
Grossaufnahme auf dem von harten Schatten geteilten Gesicht.
Helga Schütz hat sich für den Film intensiv mit Zwingli und seiner Zeit beschäftigt. In das
Skript sind Originalpredikten eingearbeitet. Wenn Habich mit inniger Andacht die neuen Regeln
aufzählt, wird bei aller Wirrheit des Films für einen Moment spürbar, worin die revolutionäre Kraft
dieser Neuordnung lag. Er ruft zu einer Abkehr von der Frevelei und Doppelmoral auf, wie sie in der
Kirche damals üblich war: „Du sollst nicht fressen. Du sollst nicht saufen. Du sollst nicht lügen. Du
sollst nicht lästern. Du sollst nicht fluchen. Du sollst nicht andre Leute verleumden. Du sollst sittlich
sein. Und du sollst gut sein. Und ehrlich sein. Und du sollst fleissig sein. Und bescheiden sollst du
sein.“
Auch die Geschichte der Wiedertäufer durchforstet Helga Schütz gründlich. Allerdings hat
man in der DDR keinen Hang zu historischer Nostalgie. Wenn überhaupt Stoffe aus weit
zurückliegenden Zeiten erzählt werden, dann solche, „die uns manchen Aufschluss geben können für
eigene Probleme“, wie es in einem internen Vermerkt der Abteilung für Fernsehdramaturgie in der
DDR zu der ersten Drehbuchfassung heisst. Natürlich ist die Zürcher Reformation für die
Ostdeutschen ein politischer Stoff. Und natürlich lassen sie und vor allem Egon Günther es sich nicht
nehmen, auch Hinweise auf die politische Gegenwart der DDR einzuflechten und zwischen den Zeilen
Dinge zu sagen, die man in einer Diktatur nicht offen sagen darf. „Nun soll jeder des Volkes
Sittenrichter sein. Der Gott der versammelten Mehrheit über den der Minderheiten“, verkündet
Zwingli, während er durch die Trümmer des gestürmten Grossmünsters schreitet. „Das heisst: Spitzel
und Gewalt gegen Andersdenkende“, antwortet ein Betender bestürzt. „Das heisst: Ruhe und Frieden“,
entgegnet Habichs Zwingli kalt. In einem Leserbrief wird der damalige Präsident des evangelischen
Kirchenrats von Graubünden die Verzahnung nach der Ausstrahlung treffend zusammenfassen: „Der
historische Hintergrund der Novelle wird als Sprachrohr der Dissidenten in der DDR benutzt. Die
Dissidenten verstehen sich als die Vertreter eines echten, ursprünglichen Marxismus, so wie sich die
Täufer in der Reformationszeit als Vertreter des ursprünglichen Christentums verstanden haben. Ihren
gegenüber stehen in der DDR Partei und Staatsmacht, die mit harter Hand für Ruhe und Ordnung
sorgen. Im Film wird diese Seite durch Zwingli und seine Anhänger dargestellt.“ Versteht ein
Schweizer Publikum diese Anspielungen? Sind sie für es relevant? Ist es für dieses Publikum
akzeptabel, dass eine Zwingligeschichte von Gottfried Keller im Schweizer Fernsehen für ein
Schlaglicht auf die aktuellen Probleme der DDR instrumentalisiert wird? Nichts deutet darauf hin,
dass diese Frage für Schütz oder Günther von Bedeutung waren. Oder dass das Schweizer Fernsehen
solches von ihnen eingefordert hätte. Während der aufgeheizten Dreharbeiten läuft das Projekt völlig
aus dem Ruder. Was im Drehbuch als einfache Geschichte angelegt ist, wird durch Egon Günthers
immer weiter ausufernde Ideen zu einem Wirbel aus vielen unverständlichen Anspielungen,
verworrenen Zusammenhängen und rätselhaften Bildern. Doch niemand mag ihm jetzt hineinreden
und auf Mässigung oder das Einhalten von Abmachungen bestehen. Anfang 1978 wird der fertig
geschnittene Film vom DDR-Fernsehen in Berlin abgenommen. Im Vorführraum sitzen neben Günther
und Schütz der Schweizer Fernsehdirektor Frei und Redaktor Ammann sowie die ostdeutsche
Redaktion. Ausserdem ein Parteisekretär der SED und ein Mitglied der Agitationsabteilung des
Zentralkomitees. Das ist die höchste Hierarchiestufe im Staatsgefüge der DDR. Die Staatsvertreter
zeigen sich nach der Vorführung begeistert. Sie sprechen von einem „herausragenden künstlerischen
Werk“ und einem „interessanten Beitrag der Filmgeschichte“. Sollten Frei und Ammann am Ergebnis
Zweifel gehabt haben, ist jetzt kein guter Moment, sie auszusprechen.
Ursprünglich haben beide Länder die Erstausstrahlung für Karfreitag im April 1979
vorgesehen. Doch die begeisterten DDR-Partner wollen das Ergebnis nun so schnell wie möglich
zeigen. Sie ziehen den Sendetermin in der DDR auf November 1978 vor. Das setzt auch die Schweizer
unter Zugzwang. Das nächstmöglich geeignete Datum ist Anfang November, am
Reformationssonntag. „Ursula“ wird angekündigt.
Mitte Oktober findet in Zürich die Pressekonferenz zu „Ursula“ statt. Helga Schütz reist mit
Teilen der ostdeutschen Crew an. Auch Suzanne Stoll ist anwesend. Egon Günther lässt sich mit
anderweitigen Verpflichtungen entschuldigen. Den Schweizer Verantwortlichen ist jetzt doch etwas
mulmig. Sie haben Bedenken, dass beim einheimischen Publikum die „modernistischen Elemente“ des
Films nicht gut ankommen würden, wie es im Reiseprotokoll der DDR-Delegation heisst. Und auch,
dass es die Schweizer Zuschauer eventuell nicht einfach so schlucken, dass die Zürcher Oberländerin
Ursula ihren Hansli in lupenreinem Stadtbaslerisch beschimpft. Doch für Korrekturen ist es jetzt zu
spät.
Rund 60 000 Leute sitzen am Abend des 5. November 1978 vor dem Fernseher und schauen
das Deutschschweizer Programm. Die Ansagerin kündigt eine Erstausstrahlung an. „Geschildert wird
eine wirre, unruhige Epoche der Schweizer Geschichte.“ Der nun folgende Fernsehfilm „Ursula“ gehe
diese Geschichte genauso wie die erzählerische Vorlage „mit angemessen derbem Griff“ an. „Es
entspricht daher kaum den Erwartungen, die frühere Gottfried-Keller-Verfilmungen geweckt haben,
und ist für Kinder nicht geeignet.“ Dann geht es los. Nach ziemlich genau zwei Minuten ist der erste
nackte Hintern zu sehen, gefolgt von angedeutetem Cunnilingus. Wer heute an DVD und Streaming
gewöhnt ist, kann sich den Schock vielleicht nicht vorstellen. Keine Möglichkeit, den Film anzuhalten
und zurückzuspringen, um sich zu versichern, dass man das, was man gerade sah, wirklich gesehen
hat. Das Zuschauertelefon ist während der Ausstrahlung dauerbesetzt.
Kurz darauf trifft der erste Leserbrief beim Schweizer Fernsehen ein. Dann noch einer. Man
kann es sich vorstellen wie Popcorn, das in einer heissen Pfanne aufzuploppen beginnt. Nach kurzer
Zeit ist der Deckel abgehoben. „127 Briefe, von denen lediglich 7 positiven Inhalts waren“ wie das
Fernsehen später angibt. Es geht darin um alles: um „Pseudo-Fellinis“, die sich etwas vom
„Sinnlosesten, Primitivsten und Ekelhaftesten“ geleistet haben. Um eine „kapitalistisch-marxistische
Missgeburt“. Um den Namen Gottfried Kellers, der „beschmutzt und erniedrigt“ wurde. Um einen
Film, der „den Graben vertieft zwischen Katholiken und Protestanten, zwischen Nord- und Südjura“.
Ganz abgesehen davon, dass man von den Nacktszenen „widerlich angeekelt“ war. Und auch „die
Täufer in ihrer Verwirrung wirken irgendwie unecht falsch“. Zudem glaube man nicht, dass Zwingli
„so brutal vorgegangen ist“. Eine „Mutter dreier Erwachsener“ stellt gar die Überlegung an, „ob
gerade solche geistigen Helden mit verantwortlich sind für unsere armen Jugendlichen, welche
vollgepumpt mit Heroin auf den Plätzen der Grossstädte verrecken!“
Elf Tage nach der Ausstrahlung findet auf Initiative des Fernsehbeauftragten der Reformierten,
Hans-Dieter Leuenberger, und eines Pfarrkollegen von ihm ein Gespräch in der Programmdirektion
der SRG statt. Anwesend sind neben den beiden Kirchenleuten Fernsehdirektor Frei und Redaktor
Ammann. Im Mittelpunkt der Unterredung stehen ein paar Fragen, die man salopp so zusammenfassen
könnte: „Was zum Teufel habt ihr euch dabei gedacht, ausgerechnet mit der atheistischen DDR eine
Zwingligeschichte zu verfilmen, in der die Wiedertäufer verzerrt dargestellt sind und unser Reformator
wie ein autoritärer Sheriff auftritt?“ Vom Sex und den Obszönitäten gar nicht zu reden.
Vernichtende Kritik
Ein kleines Handicap hat der Fernsehbeauftragte der Reformierten allerdings. Er hat den Film vor der
Ausstrahlung nämlich gar nicht gesehen. Er war zum Termin der Pressevisionierung
unabkömmlich.Man könnte auch sagen, die Sache ist ihm irgendwie durch die Lappen gegangen. In der Zürcher Synode wird wenige Tage später deshalb seine Absetzung gefordert. Man ist der Meinung,
Leuenberger hätte den Film verhindern können und müssen. In einem wütenden offenen Brief an die
Adresse eines hochrangigen Synodenmitglieds schreibt er darauf: „Ist Ihnen eigentlich klar, dass Sie
mit Ihrem Votum effektiv ein kirchliches Vorzensurrecht über das Fernsehen fordern, das in
fundamentalem Gegensatz zur Presse- und Informationsfreiheit unseres Landes steht?“ Es gebe
tieferliegende Fragen zwischen Kirche und Fernsehen als die, ob dieser Film hätte gezeigt werden
dürfen. „Sowenig die Kirche ihr Verhältnis zu dieser modernen Gesellschaft geklärt hat, so wenig hat
sie auch ihr Verhältnis zum Medium Fernsehen bewältigt.“ Von den konservativen Kräften der Synode
fordert Leuenberger den „Verzicht auf Lobbyismus, Zensur und inquisitorisches Gebaren den
Fernsehschaffenden gegenüber“. Er sei dafür da, der etwa durch eine solche Sendung entstandenen
Hilflosigkeit Ausdruck zu geben. „Und nicht, um ein kirchliches Beleidigtsein zu formulieren.“ Jetzt
geht es in der Kirche richtig zur Sache. Und mal wieder ist Zwingli schuld.
Drei Wochen nach Ausstrahlung stellt das Schweizer Fernsehen den Film in der
Diskussionssendung „Fernsehstrasse 1-4“ zur Debatte. Eingeladen sind ein Kirchengeschichtler der
Universität Zürich, der Fernsehbeauftragte Leuenberger, der ehemalige Pfarrer des Fraumünsters und
der Schriftsteller Adolf Muschg, der im Jahr zuvor eine Biographie über Gottfried Keller veröffentlicht
hat und an der ETH lehrt. Ausserdem Fernsehdirektor Frei und der zuständige Redaktor Ammann. Es
werden Ausschnitte aus „Ursula“ gezeigt. Kein Sex. Nur die Stellen, wo es um die Kirche geht. Die
Kirchenvertreter greifen die Produktion und insbesondere die Zusammenarbeit mit einem atheistischen
Staat an. Muschg gemahnt zur Gelassenheit. Niemand habe dem Autor Keller Gewalt angetan.
Die Meinung in der Presse ist fast einhellig negativ. Lediglich das „Aargauer Tagblatt“ findet
den Film „packend und aufwühlend“, das „Luzerner Tagblatt“ nennt ihn „ein Experiment, das zu
wagen sich gelohnt hat“. „Ungekonnt in der Inszenierung, mit einer demonstrativen Aufdringlichkeit,
die Szenen peinlich werden lässt auch für den, der nicht zimperlich ist“, urteilt hingegen die „NZZ“.
„Heilloser Wirrwarr“ findet der „Blick“, „brutal bunt – und banausisch“ der „Brückenbauer“ und
„fertiger Mist“ der „Walliser Volksfreund“. Im „Einsiedler Anzeiger“ wird gar ein „verkackter
Reformationssonntag“ beklagt.
Auch in der DDR dreht sich der Wind jetzt gegen „Ursula“. Hier kamen ebenfalls empörte
Zuschauerbriefe, und Staatsoberhaupt Erich Honecker persönlich erfährt von dem zwiespältigen Echo
auf die Koproduktion. Nachträglich wird der Film auf oberster politischer Ebene aus ideologischen
Gründen verurteilt, und der Leiter der Abteilung Dramaturgische Kunst, auf DDR-Seite verantwortlich
für die Zusammenarbeit und immerhin ehemaliger Kultusminister der DDR, verliert seine Stellung
beim Fernsehen. Helga Schütz bekommt keine Aufträge mehr. „Ursula“ verschwindet bis nach der
Wende im Giftschrank.
Wer ans Schweizer Fernsehen eine Beschwerde geschrieben hat, bekommt ein von Max Peter
Ammann formuliertes Standardschreiben: Man sei der Meinung, dass die nicht abzustreitende
Krassheit des Films keine unzulässige Spekulation darstelle, sondern sich aus dem inhaltlichen
Konzept „nahezu zwingend ergebe“. Und überhaupt, wozu die Aufregung? Das sei nun einfach
manchmal so zwischen Fernsehen und Zuschauern. „Was die einen ärgert, freut die anderen (und
umgekehrt).“ Zahlreiche Empfänger sind über den arroganten Ton derart empört, das sie gleich
nochmal an das Fernsehen schreiben. In den folgenden Monaten wird die Sache in allen Gremien, die
irgendwie mit der Ausstrahlung oder mit der Kirche in Verbindung stehen, diskutiert. Das
Finanzinspektorat der SRG bekommt den Auftrag, die Produktionskosten von „Ursula“ zu prüfen.
Kleinster gemeinsamer Nenner: Das Sendedatum war ungünstig gewählt. So etwas soll nicht wieder
vorkommen. Fernsehdirektor Frei übernimmt dafür die Verantwortung. Der Bericht des
Finanzinspektorats hält fest: Die ursprüngliche Absicht, mit der Koproduktion dem Schweizer
Fernsehen Geld zu sparen, wurde nicht erreicht. Weitere gemeinsame Produktionen entfallen.
Leben nach „Ursula“
Zu diesem Zeitpunkt leben Egon Günther und Suzanne Stoll schon in München. Das Paar bekommt
zwei Kinder. Günther dreht ein paar unbedeutende Fernsehfilme. Film- und Theaterangebote, die am
Anfang für Stoll eintreffen, lehnt er in ihrem Namen ab. 1990 spielt sie nochmal unter seiner Regie
neben Manfred Krug und Mario Adorf in einem Film. Er wird ein Flop, das Paar trennt sich. Günther
geht zurück nach Potsdam. Suzanne Stoll schreibt sich an der Universität ein und studiert
Psycholinguistik. Den Magister macht sie, inzwischen allein für die zwei kleinen Kinder zuständig,
mit Bestnote. Danach hat sie einen psychischen Zusammenbruch. Sie geht zurück nach Basel. Ganz
selten spielt sie heute wieder Theater, in kleinen Produktionen, unter der Regie eines Freundes.
Eine Moral hat diese Geschichte keine. Und doch kann sie ein kleines Lehrstück sein. Einige
wenige Zuschauerredaktionen auf „Ursula“ fielen auch positiv aus. Ein Herr Meier aus dem Aargau
schrieb: „Meine anfängliche Kritik wegen geschichtlichen Ungenauigkeiten, Übertreibungen und
provokativem Sex verblasse angesichts dieses fulminanten Feuerwerkes. Allerdings war ich –
wahrscheinlich wie die meisten – auf eine religiöse Sendung programmiert und musste umdenken Und dies fällt manchmal schwer.“
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